Vielleicht ist sie nicht die erste Hundertjährige in Treis, allerdings doch die erste seit einigen Jahrzehnten, die dieses stolze Jubiläum feiern durfte. Es ist für junge Leute kaum vorstellbar: Geboren im Ersten Weltkrieg, erlebte sie bewusst Krise und Untergang der Weimarer Republik, die schlimmen Jahre des Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg, die Nachkriegszeit und die Wiedervereinigung – ihr Leben umfasst somit einen großen Teil des ereignisreichen 20. Jahrhunderts.
Ruhig und gelassen sitzt Marie Rinker in ihrem gemütlichen Sessel und freut sich über den Besuch. Ihr hohes Lebensalter sieht man ihr nicht an. Außer Schmerzmitteln benötigt sie keinerlei Medikamente. Sie kann sich über zwei Enkel, vier Urenkel und sogar ein Ururenkelkind freuen.
Sie wurde am 29. August 1915 als Marie Schuchardt in Gießen geboren. Im Alter von vier Monaten kam sie als Pflegekind nach Treis zur Familie Kehr, von der sie später adoptiert wurde. Sie kann sich noch gut an eine schöne Kindheit und Jugendzeit erinnern, in der sich in der „Spinnstube“ getroffen wurde.
Das damals für Jugendliche nach der Volksschule übliche „Landjahr“, abolvierte sie auf dem Bauernhof der Familie Michel (Michel´s Konrad, ehemaliger Bürgermeister) in Treis. Danach arbeitete sie als junges Mädchen in der Zigarrenfabrik.
Am 25. Januar 1941 heiratete sie in Allendorf/Lda. Heinrich Rinker, Pflegekind der Familie Krieb aus Allendorf. Nach der Hochzeit wohnte das junge Ehepaar im Haus der Eltern in Treis an der Hauptstraße. Doch ihr Glück war nicht von langer Dauer: Zwölf Tage vor der Geburt ihrer Tochter ist Heinrich Rinker am 7. August 1943 im Zweiten Weltkrieg gefallen.
Um die kleine Familie zu ernähren, arbeitete Marie Rinker als Haushaltshilfe bei Pfarrer Schmidt und Pfarrer Höhne. Sie putzte in der Schule und ging mit den Bauern auf die Felder. Selbst besaß sie eine Wiese nahe der Knobelhütte, was stets einen langen Anmarsch bedeutete. Auch die Arbeit als Pflanzarbeiterin bedingte morgens frühes Aufstehen und weite Fußwege.
1954 baute Frau Rinker die Scheune zu Wohnzwecken aus. Dies war ein Glücksfall für die Familie, da im Jahr 1966 das Wohnhaus abgerissen werden musste, um die Hauptstraße an dieser Stelle verbreitern zu können. Nach der Heirat der Tochter baute diese zusammen mit ihrem Mann ein neues Wohnhaus an die ausgebaute Scheune an, in dem Frau Rinker heute noch mit ihrer Tochter lebt.
Zur Familie ihres Mannes in Allendorf hatte Frau Rinker stets ein gutes Verhältnis. In den Wintermonaten ist sie mit ihrer Tochter oft nach Allendorf gelaufen, um dort mit der ganzen Familie Schafwolle zu spinnen.
Zur Selbstversorgung hielt Frau Rinker Hühner, Gänse, eine Ziege und ein Schwein. Was sie sonst zum Leben brauchten, baute sie in ihrem Garten in „Oberhausen“ (hinter der Ringstraße) an. Ein- bis zweimal täglich pilgerte sie mit einem kleinen Handwagen zu „ihrem Garten“, der ihr viel Freude bereitet hat. Auch die Handarbeit, vor allem das Stricken, war ihr Hobby. Unzählige Strümpfe und Pullover wurden für Enkel und Urenkel gestrickt.
Sie war eines der ersten Mitglieder im Ortsverband Treis des Verbands der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands (VdK), in dem sie sich sehr wohl gefühlt hat. Es sei eine schöne Gemeinschaft gewesen. Mit dem VdK-Ortsverband hat Frau Rinker zwei Mehrtagesfahrten nach Bad König und Bad Salzhausen unternommen. Darüber hinaus hat sie Treis nie für längere Zeit verlassen.
Die innere Ruhe und Kraft habe sie auch im Glauben und beim Beten gefunden: „Wo Geist ist, ist auch ein Wille.“ Leider ist Frau Rinker fast vollständig erblindet, sodass sie in ihren Aktivitäten eingeschränkt ist. Trotzdem ist sie nicht verbittert, sondern sagt: „Der Mensch muss zufrieden sein.“ Und zufrieden war Marie Rinker in ihrem Leben immer, trotz der Schicksalsschläge und der harten Arbeit.
Ein Vers jedoch kommt ihr während des Besuchs mehrmals über ihre Lippen: „Zufriedenheit ist mein Vergnügen, drum lass ich alles andre liegen; ich liebe die Zufriedenheit.“