Evangelische Kirchengemeinde Treis / Lumda

Musiker – Metzger – weltoffener Mensch

Wilhelm Kehr wurde am 6. August 1929 in Treis geboren und ist nie weggezogen. Er bezeichnet sich als Treiser durch und durch, beschreibt sein Leben als schön und hart und hat es nie bereut, die elterliche Hofreite und die menschenfreundlichen Gedanken seiner Eltern weitergelebt und weiterbelebt zu haben. Der humorvolle, feierfreudige und stets hilfsbereite „Ortsmetzger“, ist über die Kreisgrenzen hinaus bekannt durch seine Planwagenfahrten – zuerst mit Pferden, später mit dem Traktor – und als Vollblut-Musiker. Er hat als langjähriges Mitglied im Kirchenvorstand sowohl fünf Pfarrer als auch die Versetzung der Kirchenorgel und die Glockenrenovierung miterlebt.

Tollkirche: Wir kennen dich als Hausmetzger. War das dein Traumberuf?

Wilhelm Kehr: Eigentlich sollte ich Musik studieren, wie es mein Lehrer vorgeschlagen hatte. Aber meine Eltern hatten unter Mühen von 1932 bis 1936 diese für damalige Verhältnisse sehr moderne Hofreite im Weiher gebaut und die wollte ich dann doch weiterführen; getreu dem Spruch: „Was du erbst von deinen Eltern, erwirb es, um es zu besitzen“. Ich konnte mir nicht vorstellen dies alles im Stich zu lassen. Deshalb machte ich nach der Schule zuerst eine landwirtschaftliche Lehre mit Gesellenbrief. Mein Wunsch war dann, während des Winters ein landwirtschaftlicher Wagenbauer zu werden, bei einem der beiden Stellmacher hier in Treis. Aber es gab bis zur Währungsreform in und um Treis keine Lehrstellen. So erlernte ich, eigentlich aus der Not heraus, den Beruf des Hausmetzgers. Später dann erweiterte ich diesen Beruf mit einer Lehre zum Metzger in der Treiser Metzgerei Will, in der ich auch viele Jahre arbeitete.

Und in 1969 schulte ich noch einmal um zum Krankenpflege-Helfer in der Psychiatrie. Die heutige Vitos-Klinik suchte damals Pfleger, die bereits einen Beruf und Zuhause eine funktionierende Familie hatten. Denn die Pflegearbeit im Psychiatrischen Krankenhaus, insbesondere in der „Geschlossenen“, war seelisch anstrengend und brauchte Ausgleich. Bei der Ausbildung zum Krankenpflege-Helfer profitierte ich im Anatomie-Kurs von meinen Kenntnissen als Metzger. Ich war dann 20 Jahre lang im PKH beschäftigt.

Tollkirche: Was war das Moderne an der elterlichen Hofreite?

Wilhelm Kehr: Wir hatten eine Scheune direkt am Hof und es gab eine Durchfahrt, so dass man mit zwei oder drei Anhängern durch Hof und Scheune fahren konnte. Mein Vater baute einen Schweinestall mit „Klimaanlage“ und Frischluftdurchzug, und ins Haus Rollläden-Kästen. Die Rollläden kamen erst sehr viel später hinein. Und das für die damalige Zeit eigentlich Undenkbare war ein Bad mit einer großen Badewanne auf Stahlfüßen. Daraufhin erklärten die Treiser Bauern meinen Vater für verrückt: „Ein Bauer, der ein Bad baut!“ Die Badewanne ist mittlerweile modernisiert, steht aber immer noch in meinem Bad.

Tollkirche: Was ist aus dem Musikstudium geworden?

Wilhelm Kehr: Mein Lehrer war beleidigt, seiner Meinung nach hatte ich großes Talent, da ich schon immer sehr gut singen und Akkordeon spielen konnte. In meinem Elternhaus spielte Musik immer eine Rolle, eine meiner Schwestern war Pianistin und gesungen wurde  sehr viel.

Die Heimatvertriebenen haben nach dem Krieg Musik mitgebracht. Blasmusikproben, nach dem Vorbild von Ernst Mosch und den Oberkrainern, fanden hier in dieser Stube statt.  So gab es immer Musikerkollegen und ich spielte in einer acht Mann starken Kapelle namens „Melodia“. Wir spielten bei den Katholiken zur Fronleichnams-Prozession und bei den Protestanten auf dem Dekanatskirchenchorfest, bei Geburtstagen, Jubiläen, Kirmesumzügen und Tanzveranstaltungen.  Daneben spielte ich in einem Trio und bis 2003 in einem Duo, mit dem ich in ganz Oberhessen Musik gemacht habe. Wir waren zwei Jahre im Voraus ausgebucht und wurden engagiert für Feiern und Feste aller Art.  Ich war eigentlich mein Leben lang nebenberuflich Musiker.

Tollkirche: Welche  Erinnerungen hast du an deine Jugend rund um den Krieg?

Wilhelm Kehr: Meine Zeit als „Pimpf“ habe ich in Erinnerung. Wir waren neun junge Burschen, die in Naturkunde, Heilpflanzenkunde und Sternenkunde ausgebildet wurden. Wir waren olympiareif im Sport und wurden abgehärtet in Zeltlagern. Wir mussten morgens barfuß über Wiesen laufen und mittags ungeschälte, gekeimte Kartoffeln essen bis wir davon krank wurden. Für die Teilnahme an dieser Ausbildung musste ich einen „Ariernachweis“ erbringen: Bis zu meinen Ur-Ur-Urahnen durften nur „Arier“ verzeichnet sein. Schon damals begann die Diskriminierung.

Gerne erinnere ich mich an meine Konfirmandenzeit bei Pfarrer Schmidt. Wir hatten Konfirmandenunterricht im Pfarrhaus, Jungen und Mädchen zur gleichen Uhrzeit, aber in zwei getrennten Räumen – und der Pfarrer dazwischen stehend. Letztes Jahr jährte sich unsere Konfirmation zum siebzigsten Mal.

Aus der Zeit vor und während des Krieges erinnere ich mich an die Zwangsarbeiter, die bei uns im Haus untergebracht wurden, und zu denen wir ein freundschaftliches Verhältnis pflegten. Ich erinnere mich an die Rationalisierung der Lebensmittel und an die Spitzel, die überprüften, ob meine Mutter nicht doch heimlich mehr von den landwirtschaftlichen Produkten verteilte als erlaubt war. Mein Vater war bereits 1936 aus der Partei ausgetreten: „Dieses Schiff fährt falsch!“, war seine Aussage und seine Familie wurde deshalb schikaniert. Er wurde gleich zu Kriegsbeginn eingezogen, in eine Veterinär-Kompanie.

Und ich erinnere mich an den 6. Dezember 1944, die Bombardierung Gießens, nach der wir etliche ausgebombte Gießener in unserem Haus aufgenommen haben. So zum Beispiel einen Zahnarzt mit Frau und  Kindern. Dieser hat dann in der Nachkriegszeit die Räume im Nebenhaus als Praxis angemietet.

Ziemlich am Ende des Krieges 1944 wurde ich noch eingezogen, zum Ausgraben von Panzergräben am Westwall bei Merzich. Ich wurde dort krank, und lag lange in einem Behelfskrankenhaus, bis die dort verlaufende Bahnlinie bombardiert wurde. Und nach dem Krieg waren wir tief erschüttert, als wir erfuhren, was mit unseren verschleppten jüdischen Mitbürgern geschehen war.

Tollkirche: Wie und wo hast du deine Frau kennengelernt?

Wilhelm Kehr: Anfang der fünfziger Jahre bei einer damals beliebten sogenannten „Sambafahrt“ an den Rhein nach Rüdesheim oder Mainz. Vereine konnten den Samba-Zug buchen, mit Stadtführung und Nachmittagstanz. Auf der Rückfahrt von solch einer lustigen Fahrt habe ich im Zug ein sauber, aber spärlich gekleidetes Mädchen mit einer kleinen zerknüllten Handtasche angesprochen. Ich durfte mich neben sie setzen. Wir waren uns gleich sympathisch, in ihr schlummerte ein goldenes Herz, wie ich später erfahren durfte. Sie war Heimatvertriebene aus dem Sudetenland, gläubige katholische Christin und wohnte in Nordeck.  Bald schon schmiedeten wir Zukunftspläne. Wir heirateten 1954 und unsere glückliche Ehe hatte fast 65 Jahre Bestand. Unser gemeinsamer Traum war es, sechs Kinder zu haben. Nach einem ungeplanten medizinischen Eingriff bei meiner Frau war das aber leider nicht möglich. „Dann nehmen wir eben Kinder an“, sagte meine Gretel ziemlich schnell und fand Unterstützung für dieses Vorhaben bei mir und auch bei meiner Mutter.

Tollkirche: Und mit diesem Adoptionsgedanken habt ihr Neuland betreten?

Wilhelm Kehr: Für Adoptionseltern in der damaligen Zeit, Anfang der 60er Jahre, waren wir vom Gesetz her zu jung: Frauen mussten aus dem Klimakterium sein, so nannte man das damals. Erst als der Frauenarzt bescheinigte, dass meine Frau keine Kinder bekommen konnte, wir unsere Gesundheit, ausreichend Wohnraum und ein geregeltes Einkommen nachweisen konnten, bekamen wir die Befreiung von der Alterserfordernis. Und nachdem meine Frau eidesstattlich erklärt hatte, dass sie keinem Beruf nachgehen werde, war der Weg endlich frei für „die unentgeltliche Pflege eines Kindes mit dem Ziel der Adoption“.

Nun konnten wir die erforderlichen Anträge stellen. Und dann haben wir in den nächsten Jahren nacheinander unsere drei Kinder Thomas, Andrea und Frank in Berlin-Grunewald aus dem Kinderheim „Teddybär“ abgeholt. Das Jugendamt in Gießen pflegte damals eine intensive Zusammenarbeit mit dem Amt in Grunewald und vermittelte uns so unsere Kinder aus der damals geteilten Stadt Berlin. Ich erinnere mich noch gut an die einerseits bedrückenden Autofahrten durch die damalige DDR und an die entwürdigenden Kontrollen an der Grenze.

Tollkirche: Aber es blieb nicht bei den Adoptivkindern?

Wilhelm Kehr: Nein, es kamen nacheinander noch insgesamt 13 Pflegekinder dazu. Denn das Jugendamt ging wegen der Adoptionsverfahren bei uns ein und aus und bemerkte natürlich unsere Kinderfreundlichkeit und den Platz in der Hofreite. Und so wurden wir immer wieder angefragt, ob wir einem Kind aus seiner Not helfen könnten. Wir betreuten Kinder aus Deutschland, aus Eritrea, aus dem Kosovo und zuletzt Zwillingsmädchen aus Äthiopien, die uns besonders an Herz wuchsen und auch hier in Treis bei allen sehr beliebt waren.

Mit den beiden habe ich ihre Verwandten in Afrika besucht und erlebte die einfache und herzliche Lebensweise der dort ansässigen koptischen Christen. Beide Mädchen sind mittlerweile erwachsene Frauen, haben selbst Kinder und arbeiten in ihren erlernten Berufen als Krankenschwestern in der Geriatrie – eine in Amerika, die andere hier ganz in der Nähe.

Tollkirche: Was ist das Besondere an Treis?

Wilhelm Kehr: Ich würde sagen, Treis ist allen „Heimatvertriebenen“ gegenüber sehr offen. Ich erinnere mich an die Zeit, als wir in Treis nach dem Krieg viele katholische Heimatvertriebene aufgenommen haben. Mein Vater war damals im Kirchenvorstand und dieser Kirchenvorstand bot dem katholischen Pfarrer an, in die evangelische Treiser Kirche zu gehen, um ihren katholischen Gottesdienst zu feiern. Das gab es nur sehr selten und in Treis war und ist das selbstverständlich. Die Treiser haben eine besondere Mentalität: Hier konnten schon immer Vertriebene „landen“.

Nach oben scrollen