Heinrich Rauth wurde am 15. November 1926 in Treis geboren und ist nie weggezogen. Als langjähriger Kirchenvorsteher und Küster hat er die Gemeinde seit den 1980er Jahren geprägt wie kaum ein Zweiter und ihre Wandlungen hautnah miterlebt. Im Interview berichtet er von seinen Erinnerungen, warum er nie aus Treis weggezogen ist und was Treis für ihn einmalig macht.
Tollkirche: Wie bist du Kirchenvorsteher und Küster geworden?
Heinrich Rauth: Pfarrer Münch (1964 – 1986) ging einmal bei uns vorbei und sagte: „Herr Rauth, wir bräuchten unbedingt jemand, der sich für die Kirche interessiert. Sind Sie nicht mal bereit, sich zum Kirchenvorsteher wählen zu lassen?“ Da sagte ich: „Wenn Sie mich aufstellen wollen, bin ich dazu bereit und mache das.“ So bin ich dazu gekommen. Dann haben sie mir immer keine Ruhe gelassen und als ich dann daheim war, hieß es immer, du bist doch hier in der Nähe und könntest die Arbeit als Küster machen. Dann hab ich das also gemacht, und hab das auch gern gemacht.
Tollkirche: Was ist deine früheste Erinnerung an die Kirche?
Heinrich Rauth: Zu Weihnachten war ich als Kind zweimal der Josef. Mit meinen Schulkollegen hab ich da vor dem Altar gesessen und gesungen. Als Konfirmanden mussten wir dann zu Ostern die Kirche putzen, das war damals so Brauch. Das sind so Erlebnisse, die hängen bleiben.
Tollkirche: Wie hat sich die Kirche baulich gesehen verändert?
Heinrich Rauth: Die Kirche hat sich sehr verändert seit damals. Da waren ja früher überall die Emporen bis an die Decke. Es war alles zugebaut. Die Orgel stand hinten im Chorraum. Das hat mir immer gut gefallen, wenn man reinkam und gleich die Orgel gesehen hat. Wir Konfirmanden haben immer davor gesessen, während unser Lehrer die Orgel gespielt und aufgepasst hat, dass wir keinen Blödsinn gemacht haben. Auch das alte Pfarrhaus gab es damals noch, ein schönes altes Haus. Schade, dass das abgerissen wurde. Dort hatten wir immer Konfirmandenunterricht, weil es noch kein Gemeindehaus gab.
Tollkirche: Welche Bedeutung hatte Kirche früher?
Heinrich Rauth: Kirche gehörte zum Lebensrhythmus dazu. Es ging immer vom Haus in die Kirche. Und sonntags war der Gottesdienst eben Pflicht. Aber das Dorfleben war früher auch ganz anders. Im Feld und Dorf war viel mehr Leben als heute, beim Kartoffeln ausmachen haben alle mitgeholfen, wir sind zum Heumachen fast bis nach Mainzlar gelaufen. Auch an den Bahnhöfen im Lumdatal war viel los. Heute wirken das Dorf und die Felder ringsum manchmal fast ausgestorben.
Tollkirche: Warum scheint der Glaube für die Menschen heute nicht mehr so wichtig zu sein?
Heinrich Rauth: Erst einmal macht das Fernsehen vieles kaputt. Manche sind furchtbar abhängig und können den Fernseher gar nicht mehr ausschalten. Früher saßen die Leute mehr zusammen und haben sich unterhalten. Wir Kinder haben den Älteren oft zugehört, was die so erzählt haben. Man kann den Fortschritt eben nicht aufhalten. Die Menschen müssen sich selbst besinnen und ich glaube auch, dass sie das irgendwann tun werden.
Tollkirche: Hat sich deine eigene Einstellung zur Kirche mit der Zeit verändert?
Heinrich Rauth: Einen engen Bezug hatten wir eigentlich alle nicht. Früher gab es ja erst mal die Hitlerjugend. Wir sind natürlich auch in die Kirche gegangen, da haben wir keinen Widerspruch gesehen. Eigentlich waren wir als Jungs nur an Motoren und Flugzeugen interessiert. Was das mit der Politik zu tun hatte, haben wir zwar erzählt bekommen, aber nicht verstanden. Nach der Konfirmation wurde für die Jugendlichen in der Kirche nur noch wenig getan. Es gab zwar noch eine Jugendgruppe, aber keine Freizeiten und Angebote wie heute. Den Anschluss an die Kirche hab ich allerdings auch nie verloren, selbst wenn ich nicht jeden Sonntag in den Gottesdienst gegangen bin.
Tollkirche: Hast du von den Diskriminierungen z.B. gegen die jüdischen Mitbürger in Treis in der NS-Zeit etwas mitbekommen?
Heinrich Rauth: Mein Vater hat damals Probleme bekommen, weil er nicht in der Partei war und wir bei Juden gekauft haben. Er hat auch was Schlechtes über Hitler gesagt und das hat wohl irgendjemand verraten. Jedenfalls musste er dann an die Front nach Russland, obwohl er schon im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte. Mit unseren Nachbarn haben wir Juden auch beim Umzug geholfen. Das war aber in den früheren Jahren noch kein großes Problem. An die Progrome 1938 kann ich mich auch noch erinnern, als die Synagogen gebrannt haben. Ich habe zugesehen, wie sie die Bücher aus der Synagoge vor dem Haus verbrannt haben, wo heute die Gaststätte „Zum Bahnhof“ drin ist.
Tollkirche: Gab es nach Kriegsende viele Zerstörungen in Treis?
Heinrich Rauth: Nein, Zerstörungen gab es kaum. In einem Haus ist aber ein Kind getötet worden und eine Granate hat ein Loch in die Wand meines Elternhauses gerissen.
Tollkirche: Wie hast du denn das Kriegsende erlebt?
Heinrich Rauth: Da war ich gerade in Essen-Fronhausen, wohin wir uns zurückgezogen hatten. Weil ich verwundet war, sollte ich den Munitionsbunker bewachen. Als die Amerikaner kamen, wurde ich von Anwohnern versteckt. Auf dem Heimweg haben sie mich aber in Münster/Westfalen gekriegt. So war ich noch ein viertel Jahr in amerikanischer Gefangenschaft. Wir haben dort auf freiem Feld geschlafen im Februar und März. Das war eine schwere Zeit, viele sind umgekommen, die älter waren als ich. Nur alle 24 Stunden gab es einen Becher voll zu essen. Die Gefangenen in den Bergwerken im Osten haben es aber noch viel schlimmer getroffen. Manche waren jahrelang weg von zuhause.
Tollkirche: Was waren nach 1945 die wichtigsten Veränderungen für das Dorf und die Gemeinde?
Heinrich Rauth: Besonders viel getan hat sich durch die Motorisierung, immer mehr Leute hatten Autos und Mopeds. Man traf sich dadurch viel seltener auf der Straße. Aber natürlich auch die Verbreitung von Elektrizität und damit mehr Fernseher und Telefone haben die Kommunikation zwischen den Leuten verändert.
Tollkirche: Wie nimmst du die Treiser Kirchengemeinde im Vergleich zu anderen wahr? Ist Treis etwas Besonderes für dich?
Heinrich Rauth: Zu anderen Gemeinden kann ich nicht viel sagen. Ich weiß nur, dass es in Treis sehr leicht ist, für Neubürger Anschluss zu bekommen, wenn sie an die Kirche herantreten, z.B. über den Chor. Andere Gemeinden sind da etwas zurückhaltender glaube ich. Da hat sich aber auch vieles erst geändert, seit Pfarrer Lenz 1998 hierher gekommen ist. Die Treiser Gemeinde war nicht immer so offen, weil seine Vorgänger sich dafür nicht so viel Zeit genommen haben. Heute ist die Dorfgemeinschaft zwar stark, aber offen für jeden und das finde ich gut. Einmal sprach mich eine Frau an, die überlegte, sich in Treis ein Haus zu kaufen. In Treis kommt ihr gut klar, hab ich ihr gesagt. Später hat sie mir dann bestätigt, dass ich sie damals gut beraten hätte. Sobald man hier Kontakt sucht und sich in Vereinen oder der Kirche einbringt, wird man sehr schnell integriert. Nur Menschen, die sich zurückhalten, haben es natürlich schwerer.
Tollkirche: War das Dorf in der Nachkriegszeit auch schon so offen gegenüber neu Hinzugezogenen?
Heinrich Rauth: Gastarbeiter gab es nicht viele, aber für die Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten sind die Treiser damals sehr eng zusammengerückt. Manchmal wurde nur ein Zimmer mit mehreren Leuten bewohnt. Es verlief trotzdem relativ harmonisch. Viele waren sogar froh, dass die neuen Bürger in der Landwirtschaft geholfen haben. Wir haben damals auch vieles von den Flüchtlingen gelernt und sie wurden schnell in die Dorfgemeinschaft integriert. So haben letzten Endes beide Seiten davon profitiert.
Tollkirche: Hast du dir mal gewünscht, aus Treis wegzuziehen?
Heinrich Rauth: Nein, eigentlich nicht. Aber ich habe zwei Schwestern in Amerika und da wollte ich schon mal abspringen, nur war ich hier immer zu sehr eingebunden und habe das nicht geschafft. Das habe ich auch manchmal bereut. Ich kann nur jedem empfehlen, auch mal woanders hinzugehen und nicht immer am selben Ort zu leben.